KAPITEL EINS

946 Words
KAPITEL EINS Emily strich mit ihren Händen über das schwarze, seidene Material ihres Kleides, um zum wahrscheinlich hundertsten Mal die Falten glatt zu streichen. „Du siehst nervös aus“, sagte Ben. „Du hast dein Essen kaum angerührt.“ Ihre Augen huschten zu dem halb gegessenen Hühnchen auf ihrem Teller und wieder zurück zu Ben, der ihr gegenüber an dem wunderschön gedeckten Esstisch saß, sein Gesicht wurde durch das Kerzenlicht erleuchtet. Er hatte sie anlässlich ihres siebten Jahrestages in eines der romantischsten Restaurants in New York ausgeführt. Natürlich war sie nervös. Vor allem, seit die kleine Tiffany Box, die sie vor ein paar Wochen versteckt in seiner Sockenschublade gefunden hatte, an diesem Abend nicht mehr dort gelegen hatte. Sie war sich sicher, dass er ihr heute Nacht endlich einen Antrag machen würde. Der Gedanke ließ ihr Herz vor Aufregung hämmern. „Ich habe einfach nur keinen Hunger“, antwortete sie. „Oh“, erwiderte Ben leicht besorgt. „Heißt das, dass du keine Nachspeise willst? Ich hatte mich schon auf die gesalzene Karamellmouse gefreut.“ Sie wollte definitiv keine Nachspeise, aber sie hatte eine leichte Vermutung, dass Ben den Ring vielleicht in der Mouse versteckt haben könnte. Es wäre eine kitschige Art, ihr einen Antrag zu machen, aber sie würde ihn annehmen, egal auf welche Weise. Zu behaupten, dass Ben Bindungsängste hatte, wäre eine Untertreibung. Sie hatten zwei Jahre miteinander ausgehen müssen, bevor er ihr überhaupt gestattet hatte, eine Zahnbürste in seiner Wohnung zu lassen – und vier Jahre, bevor er sie endlich einziehen ließ. Wenn sie auch nur Kinder erwähnte, wurde er weiß wie ein Blatt Papier. „Bitte, bestell die Mouse, wenn du sie willst“, sagte sie. „Ich habe ja noch mein Glas Wein.“ Ben zuckte leicht mit den Schultern und rief nach dem Kellner, der sofort seinen leeren Teller und ihr halb gegessenes Hühnchen abräumte. Ben streckte seine Hände aus und hielt ihre in seinen umschlossen. „Habe ich dir schon gesagt, dass du heute Abend wunderschön aussiehst?“, fragte er. „Noch nicht“, antwortete sie mit einem gerissenen Lächeln, das er erwiderte. „Wenn das so ist, du schaust wunderschön aus.“ Dann griff er in seine Tasche. Ihr Herz schien still zu stehen. Das war der Moment. Es passierte wirklich. All diese Jahre voller Verzweiflung und Geduld, die einem buddhistischen Mönch gleichkam, zahlten sich endlich aus. Sie stand kurz davor, ihrer Mutter zu beweisen, dass sie Unrecht hatte. Diese schien nicht müde zu werden, Emily zu sagen, dass sie niemals einen Mann wie Ben vor den Traualtar bringen würde. Ganz zu schweigen von ihrer besten Freundin Amy, die in letzter Zeit die Angewohnheit entwickelt hatte, Emily nach einem Glas Wein zu beschwören, keine Zeit mehr mit Ben zu verschwenden, da man mit fünfunddreißig definitiv „noch nicht zu alt war, um die wahre Liebe zu finden“. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, als Ben die Tiffany Schachtel aus seiner Hosentasche hervorholte und sie über den Tisch in ihre Richtung schob. „Was ist das?“, brachte sie hervor. „Öffne es“, antwortete er mit einem Grinsen. Er kniete nicht auf einem Bein, bemerkte Emily, aber das war in Ordnung. Wegen ihr musste es nicht traditionell sein. Sie brauchte einfach einen Ring. Jeder Ring wäre in Ordnung. Sie nahm die Schachtel in die Hand, öffnete sie – und zog die Augenbrauen zusammen. „Was…zur Hölle…?“, stammelte sie. Sie starrte schockiert auf den Inhalt der kleinen Box. Es war eine 30 ml Parfümflasche. Ben grinste, als ob er von seinem Werk begeistert wäre. „Ich wusste auch nicht, dass sie Parfüm verkaufen“, entgegnete Ben. „Ich dachte, sie verkauften nur überteuerten Schmuck. Willst du mich ansprühen?“ Emily, die plötzlich ihre Gefühle nicht mehr kontrollieren konnte, brach in Tränen aus. All ihre Hoffnungen fielen um sie herum zusammen. Sie fühlte sich wie eine Idiotin, weil sie sich dem Glauben hingegeben hatte, dass er ihr heute Abend womöglich einen Antrag machen würde. „Warum weinst du?“, fragte Ben mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er schien auf einmal gekränkt zu sein. „Die Leute schauen schon.“ „Ich dachte…“, stammelte Emily, während sie sich mit der Serviette die Augen abtupfte. „Weil wir hier im Restaurant sind und es unser Jahrestag ist…“ Sie brachte die Worte nicht heraus. „Ja“, erwiderte Ben mit kalter Stimme. „Es ist unser Jahrestag, weshalb ich dir ein Geschenk gekauft habe. Es tut mir leid, wenn es nicht gut genug ist, aber du hast ja immerhin gar keines für mich.“ „Ich dachte, dass du mir einen Antrag machen würdest!“, erklärte Emily schließlich weinend, als sie ihre Serviette auf den Tisch warf. Die Hintergrundgeräusche in dem Restaurant verstummten, da alle Menschen aufgehört hatten zu essen, sich umdrehten und sie nun anstarrten. Doch es war ihr mittlerweile egal. Bens Augen weiteten sich aus Angst. Er schaute sogar noch verängstigter aus als damals, als sie die Möglichkeit erwähnt hatte, eine Familie zu gründen. „Warum willst du heiraten?“, fragte er. In dem Moment wurde Emily einiges klar. Sie schaute ihn an, als ob sie ihn das erste Mal sähe. Ben würde sich nie verändern. Sie hatte Jahre damit verbracht, auf etwas zu warten, das so offensichtlicherweise niemals eintreten würde, und diese mini Flasche Parfüm war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. „Es ist vorbei“, sagte Emily. „Ich bin nicht mehr blind. Das hier – du, ich – war nie richtig gewesen.“ Sie stand auf und warf ihre Serviette auf den Stuhl. „Ich ziehe aus“, erklärte sie. „Ich werde heute Nacht bei Amy schlafen und dann morgen meine Sachen holen.“ „Emily“, widersprach Ben und griff nach ihrer Hand. „Können wir bitte darüber reden?“ „Warum?“, schoss sie zurück. „Damit du mich dazu überreden kannst, weitere sieben Jahre zu warten, bevor wir uns ein eigenes Haus kaufen? Ein weiteres Jahrzehnt bevor wir ein gemeinsames Bankkonto führen? Siebzehn Jahre, bevor du überhaupt darüber nachdenkst, dass wir uns gemeinsam eine Katze anschaffen könnten?“ „Bitte“, flüsterte Ben, während er den Kellner anschaute, der ihre Nachspeise brachte. „Du machst eine Szene.“ Emily wusste das, doch es war ihr egal. Sie würde ihre Meinung nicht ändern. „Es gibt nichts mehr, über das wir reden könnten“, entgegnete sie. „Es ist vorbei. Genieß deine Mousse aus gesalzenem Karamell!“ Und mit diesen letzten Worten stürmte sie aus dem Restaurant.
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