„Lillyn, du schlimmes Mädchen! Warum ist das Frühstück noch nicht fertig? So faul bist du!“, kreischte ihre Mutter Celeste.
„Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen. Wenn das Frühstück nicht fertig ist, bevor wir herunterkommen, musst du vielleicht künftig früher aufstehen“, sagte ihr Vater Mark, als er in die Küche stampfte.
Lillyn seufzte innerlich. Die Göttin verhüte , dass sie es äußerlich tat. Wahrscheinlich müsste sie von der Arbeit zu Hause bleiben, um die Prellung oder den Knochenbruch zu versorgen, den sie wohl davontragen würde. Schnell servierte sie das Frühstück aus Eiern, Speck, Bratkartoffeln und Toast. Sie stand da und beobachtete, wie ihre Eltern das Essen verschlangen. Sie betete, dass sie ihr etwas übrig lassen würden, damit sie wenigstens ein bisschen essen konnte, bevor sie zum Rudelhaus aufbrach, um die Reinigungsarbeiten zu beginnen. Doch das taten sie nicht. Nachdem ihre Eltern zu den Grenzpatrouillendiensten aufgebrochen waren, räumte Lillyn die Küche auf und machte sich auf den Weg zum eine Meile entfernten Rudelhaus.
Während sie ging, dachte sie über ihr 19-jähriges Leben nach. Ihr Vater hatte sich einem Sohn gewünscht und baute nie eine Bindung zu ihr auf. Auch ihre Mutter wollte ihm zuliebe ebenfalls einen Sohn und knüpfte daher keine Verbinbung zu ihr. Bereits mit sieben Jahren, als sie ihre Aufgaben vertand, machten ihre Eltern sie zur Haussklavin. Sie musste früh aufstehen, das Frühstück zubereiten, die Küche putzen und vor der Schule noch eine Ladung Wäsche waschen. In der Schule wurde sie gemobbt, weil sie so ruhig und seltsam war.– zumindest behaupteten das die anderen Kinder. Wegen ihrer blassen Haut, ihres silbernen Haares mit weißen Strähnen und ihrer blassblauen Augen wurde sie als hässlich bezeichnet. Nach der Schule musste sie direkt nach Hause, die Wäsche in den Trockner legen, das Abendessen vorbereiten, ihre Hausaufgaben machen, die saubere Wäsche falten und aufhängen, das Geschirr spülen, Staub wischen und das Wohnzimmer sowie die Badezimmer reinigen, während ihre Eltern nach ihren Grenzpatrouillendiensten auf der Couch saßen und fern sehen.
Sie war schüchtern und demütig, weil sie zu Hause geschlagen wurde, sobald sie einen Fehler machte. In der Schule wurde sie verspottet und später, als sie älter wurde, sogar von den Schulmobbern verprügelt. Mit 13 Jahren blieben ihre Aufgaben im Haushalt unverändert, aber nun musste sie auch zum Familieneinkommen beitragen. Ihre Mutter fragte, ob sie 3 Tage pro Woche als Hausmädchen im Rudelhaus arbeiten könnte. Zum Glück schloss sie mit 16 die Schule frühzeitig ab, was ihr mehr Zeit verschaffte, ihre Hausarbeiten vor ihrer Schicht im Rudelhaus zu erledigen. Mittlerweile arbeitet sie jedoch nicht mehr nur an 3, sondern an 6 Tagen pro Woche und hat nur sonntags frei.
Zu ihrem Leidwesen verwandelte sie sich bereits mit 16 Jahren, zwei Jahre früher als gewöhnliche Wölfe. Es geschah mitten in der Nacht bei Vollmond. Schweißegebadet und von Schmerzen gequält wachte sie auf und schrie laut auf, sodass ihr Vater ins Zimmer stürmte. Als er sah, wie sie sich vor Schmerzen auf ihrem Bett wand, fluchte er und trug sie hinaus in den Garten, wo er sie auf den Boden legte. Ihre Mutter und ihr Vater beobachteten entsetzt, wie sie sich in einen kleinen, silber-weißen Wolf verwandelte. Sie waren schockiert über ihre ungewähnliche Größe und Farbe – kein Wolf hatte solche Merkmale. Sie verboten ihr, jemandem davon zu erzählen und sich jemals wieder zu verwandeln.
Ihr Wolf hieß Spirit. Spirit erzählte ihr, dass sie eine direkte Nachfahrin der Mondgöttin selbst sei, aber sie durfte es niemandem erzählen. Außerdem sagte Spirit ihr, dass sie die Auren und Absichten der Menschen wahrnehmen könne. Eine weiße Aura bedeutet, dass keine schlechten Absichten vorhanden sind. Grau zeigt an, dass die Person moralisch zwischen Gut und Böse schwankt. Schwarz hingegen weist darauf hin, dass die Person auf die dunkle Seite gewechselt. Sie sagte, dass dies eine der Gaben sei, die ihr verliehen wurden. Spirit sagte ihr auch, dass sich mit 18 Jahren ihre zweite Gabe manifestieren würde.
Als sie im Rudelhaus arbeitete, bemerkte sie die Auren der Menschen dort. Die meisten hatten eine weiße Auren, mit Ausnahme der Alpha-Zwillingen Madeline und Bart sowie einer Handvoll ihrer Freunde. Ihre Auren waren grau bis dunkelgrau. Sie waren die Haupttyrannen in der Schule und alle dachten, sie hätte die Schule abgebrochen, ohne zu wiessen, dass sie die Schule frühzeitig abgeschlossen hatte. Während sie ihre Zimmer reinigte, standen sie ihr ständig im Weg, kippten Müll oder die Wischeimer um und hinterließen ihre Räume in einem solchen Chaos, dass es viel Zeit kostete, alles wieder in Ordnung zu bringen.
Als sie 18 wurde, bemerkte sie, dass die Auren der Menschen in ihrer Nähe rot aufleuchteten, wenn sie logen. Eines Abends hatte Bart seinen Vater über seinen Aufenthaltsort belogen. Er sollte auf Patrouille sein und die Grenze kennenlernen, aber er sagte seinem Vater, er sei bei einer Lerngruppe. Seine ganze Aura leuchtete rot auf. Lillyn wischte gerade den Flur, als sein Vater mit ihm sprach. Als dies geschah, ließ sie vor Schreck den Wischmopp fallen und machte so auf sich aufmerksam. Als der Alpha fragte, ob sie etwas brauche, warnte Spirit sie, still zu bleiben. Also schüttelte sie den Kopf, hob ihren Wischmopp auf und setzte ihre Arbeit fort.
Nachts schlich sie sich aus ihrem Zimmer und aus dem Haus, um sich draußen im Wald zu verwandeln. Dort lief Spirit und jagte Kleintiere. Lillyn liebte diese Zeit, denn es war die einzige Gelegenheit, an den meisten Tagen etwas zu essen.
Eines Nachts erwischte ihr Vater sie, wie sie sich ins Haus schlich. Er dachte, sie wäre draußen gewesen, um einen Jungen zu treffen. Sie versuchte, es zu leugnen, aber er glaubte ihr nicht und schlug er sie heftig mit seinem Gürtel. Zwie Tage lang lag sie bewusstlos. Als der Alpha nach ihr fragte, sagte ihr Vater, sie sei krank, weil sie ihren Wolf nie bekommen habe. Nun glaubten alle, sie sei wolflos, was ihnen noch mehr Anlass gab, sie zu schikanieren. Lillyn fragte Spirit warum niemand daran glaubte, dass sie einen Wolf hatte. Spirit erklärte ihr, dass sie den Geruch ihres Wolfs maskiere. Niemand dürfe wissen, dass sie einen Wolf habe, denn sie etwas Besonderes sei, würde man sie für eigene Zwecke ausnutzen wollen.
Eines Abends ging ein Elitekrieger durch den Wald und sah, wie sie sich verwandelte. Als sie sich zurückverwandelte, stellte er sie zur Rede. Sie erklärt ihm, dass ihre Eltern sie schlagen würden, dass er jemandem davon erzählte. Er versprach, es geheim zu halten, verlangte jedoch im Gegenzug bestimmte sexuelle Gefälligkeiten. Ein ganzes Jahr lang nutzte er sie in vielerlei Hinsicht vermied jedoch die vaginale Penetration, da er kein Risiko eingehen wollte, dass sie schwanger wurde. Eines Tages drangen Rogues ins Rudel ein und töteten ihn. Noch nie hatte sie sich so über einen Angriff von Rogues gefreut, doch der sexuelle Missbrauch ließ sie auch in sich selbst zurückziehen.
Sie hörte vollständig auf zu reden. Sie versuchte nie, sich zu schützen, und ertrug einfach die Schläge, die ihre Eltern ihr ohne erkennbaren Grund zufügten. Ebenso wehrte sich auch nicht gegen den verbalen und körperlichen Missbrauch, den sie von Madeline, Bart und ihren Freundesgruppe erduldete. Spirit sagte ihr, sie würde sie heilen, damit keine Narben zurückblieben, doch ihr Wolf konnte sie seelisch nicht erreichen. Spirit versuchte ihr zu sagen, dass sie die verletzenden Worte nicht glauben sollte. Aber sie tat es. Sie war überzeugt, dass sie nutzlos und hässlich sei. Niemand würde sie jemals als Gefährtin wollen, weil sie nichts wert war. Als sie 18 wurde und keinen Gefährten in ihrem Rudel fand, lachten ihre Eltern und sagten, welcher Gestaltwandler würde schon einen kleinen Wolf wie sie wollen, der auch noch eine seltsame Farbe hatte.
Mit 19 Jahren war sie nun an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr verstand, warum sie überhaupt noch lebte. Die Schläge, die sie fast jede Nacht ertragen musste, hätten sie schon längst umbringen sollen. Sie aß kaum noch, und nur Spirit bekam auf ihren nächtlichen Läufen etwas zu essen. Ohne ihren Wolf hätte sie sich längst das Leben genommen. Was war eigentlich so besonders an ihr?
Auf halbem Weg zum Rudelhaus kam ihr ein Gedanke: Warum war sie überhaupt noch hier? Sie war erwachsen. Sie könnte das Rudel verlassen und eine Streunerin werden. Entschlossen drehte Lillyn sich auf dem Absatz um und rannte zurück nach Hause. Sie griff nach ihrem alten Rucksack und stopfte ihn mit Kleidung und einigen Toilettenartikeln voll. Es war mitten im Sommer, also brauchte sie keine Decken. Sie nahm eine Geldrolle, die sie für einen regnerischen Tag beiseitegelegt hatte. Es war nicht viel, aber wenn sie sparsam war, würde es mindestens eine Woche reichen. Außerdem könnte sie Arbeit finden. Sie lief aus dem Haus und blieb mitten auf der Straße stehen.
„Tun wir das wirklich, Spirit?“
„Ja, tu es!“
Lillyn rannte durch den Wald bis zur Grenze des Rudels. Als sie die Grenze überschritt, sprach sie die Worte, die sie sagen musste.
Durch die Gedankenverbindung des Rudels sagte sie, „Ich, Lillyn Dasher, verstoße Alpha Brian vom Grünwald-Rudel als meinen Alpha und verstoße Grünwald als mein Rudel. Ich bin jetzt eine Streunerin.“