KAPITEL EINS-1

2044 Words
KAPITEL EINS Keira öffnete ein Auge. Während ihr Gehirn langsam vom Schlaf in den Bewusstseinszustand überging, dämmerte ihr, wo sie sich befand. Bryns Couch. Immer noch. Genau wie gestern und den Tag davor und den Tag davor. Sie stöhnte, kniff die Augen wieder zu und versuchte wieder einzuschlafen. Wenn sie schlief, verschwanden all die Dinge mit Cristiano. Sie konnte so tun, als hätte sie ihm nie das Herz gebrochen, als wäre sie niemals von der möglicherweise besten Liebe ihres Lebens davongelaufen. In ihren Träumen konnte sie auch so tun, als hätte sie ihr Leben unter Kontrolle, dass sie nicht noch immer auf Bryns Couch schlafen würde, ihre Tage damit verschwendete, Reality-TV zu schauen, die Anrufe ihrer Freunde ignorierte und noch immer die Bitte ihres Bosses Elliot, doch endlich den Ort für ihre nächste Reise auszusuchen, hinauszögerte. Das Zimmer war dunkel im schwachen Licht des frühen Dezembers. Als sie dort auf der Couch lag und die Decke anstarrte, hörte Keira das Geräusch von fließendem Wasser. Die Dusche. Bryn musste schon wach sein, was wirklich ungewöhnlich war, wenn man bedachte, dass es ein Samstagmorgen war und Bryn bislang an jedem Samstagmorgen ihres Erwachsenenlebens verkatert gewesen war. Verwirrt setzte Keira sich auf, die alte Couch knarrte unter ihr und sie konnte das Gurgeln der Kaffeemaschine hören. Sie konnte den Duft des Kaffees jetzt auch riechen. Bryn war wach und machte Kaffee? Das klang überhaupt nicht nach ihrer Schwester! Irgendetwas war los. Bryn war die Chaotin von ihnen beiden, aber in letzter Zeit war es Keira, die den ganzen Tag herumhing und nichts auf die Reihe brachte. Aber sie konnte nicht anders. Nach allem, was mit Cristiano passiert war, war sie einfach nicht bereit, sich der Welt zu stellen. Keira hörte das Klicken des Schlosses der Badezimmertür, gefolgt vom Geräusch von Bryns Schritten, als sie den Flur entlang hüpfte. Keira konnte sie eine eintönige Melodie pfeifen hören. Sie kam um die Ecke. Sie war in ein gelbes Handtuch gewickelt und hatte ein weiteres Handtuch als Turban auf ihrem Kopf. „Oh, du bist wach“, sagte Bryn, blieb stehen und grinste breit. „Ich habe Kaffee gemacht, möchtest du welchen?“ Keira runzelte misstrauisch ihre Stirn. „Warum hast du so gute Laune? Es ist Samstagmorgen. Warum bist du überhaupt wach?“ Bryn lachte. „Ich hatte einen ruhigen Abend zu Hause. Es stellt sich heraus, dass, wenn deine Leber nicht damit beschäftigt ist, Gifte aus deinem Körper zu filtern, man sich sogar ziemlich gut fühlt.“ „Ich habe schon seit Jahren versucht, dir das zu verklickern“, murmelte Keira. Sie sank zurück auf die Couch und starrte wieder die Decke an. Eine Sekunde später erschien Bryn Gesicht über ihr. Wasser tropfte von ihren nassen Haarsträhnen hinunter auf Keiras Gesicht. „Du lieferst eine ziemlich überzeugende Darstellung einer Leiche ab“, sagte Bryn zu ihr. Keira verschränkte beleidigt ihre Arme und drehte sich von ihrer Schwester weg. „Das ist ja noch besser!“, witzelte Bryn. Keira ignorierte sie einfach. Sie hörte, wie Bryn sich wegbewegte und zurück in ihr Zimmer ging, um sich für den Tag fertig zu machen. Keira fühlte sich schlecht, dass sie so schnippisch zu ihrer Schwester gewesen war, insbesondere in Anbetracht dessen, dass diese ihr einen riesigen Gefallen tat, sie kostenlos in ihrer Wohnung wohnen zu lassen. Aber dann erinnerte sie sich an die unzähligen Male, die Bryn zu ihr schnippisch und undankbar gewesen war und entschied, dass ein wenig vertauschte Rollen gar nicht so schlimm waren. Sie hörte, wie Bryn zurück ins Wohnzimmer kam. „Ich gieße dir einen Kaffee ein“, teilte sie mit. Keira seufzte und setzte sich auf. „Ich will keinen Kaffee“, sagte sie. „Ich will überhaupt nichts, was meinen Schlaf unterbricht. Ich will einfach für immer schlafen.“ Sie sah hinüber zu Bryn, die ihre Aussage einfach ignorierte und ihr einen Kaffee, in der größten Kaffeetasse im Haus, eingoss. Sie kam hinüber und reichte ihn Keira. „Ich werde dich nicht noch einen Tag auf dieser Couch verschwenden lassen, mit Netflix und Selbstmitleid“, sagte sie, als sie ihr die Tasse reichte. „Trink. Wache auf. Wann hast du dich das letzte Mal geduscht?“ Keira zog eine Grimasse, als sie die heiße Tasse nahm. „Donnerstagabend.“ Bryn rollte mit den Augen. Sie wirbelte zurück zum Küchentisch und goss sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. „Warum bist du überhaupt so früh wach?“, murmelte Keira und nippte an ihrem Kaffee. Er war brühend heiß. Sie stellte ihn auf den Kaffeetisch. „Weil...“ sang Bryn, während sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte, um eine neue Flasche ihres Lieblingskaramellsirups vom Küchenschrank zu greifen. „Felix und ich Pläne haben.“ Sie landete wieder auf ihren Füßen, Sirup in der Hand und grinste Keira triumphierend an. Felix. Felix. Felix. Das war alles, worüber Bryn seit einiger Zeit überhaupt noch sprach. Sie war von einer Serien-Femme Fatale zu einer treuen Freundin geworden. Unter normalen Umständen wäre Keira außer sich vor Freude für ihre Schwester gewesen, dass diese sich endlich in eine feste Beziehung eingelassen hatte, aber Felix war im gleichen Alter wie ihre Mutter und Keira konnte sich nicht helfen, dies etwas unheimlich zu finden. Für sie klang es mehr, als hätte Bryn Vaterkomplexe entwickelt. Der Fakt, dass ihr eigener Vater sie verlassen hatte, als sie noch Babys waren, untermauerte die Wahrscheinlichkeit dieser Theorie stark. „Welche Art Pläne?“, fragte Keira. Sie sah, wie eine eindeutige Röte Bryns Hals hinaufschoss. Sie zuckte mit den Schultern, in einer Art, die Keira sofort als einen Versuch, lässig zu wirken, durchschaute. „Oh, wir wollen nur ein paar Einrichtungsgegenstände einkaufen.“ Keira kniff ihre Augen zusammen. Warum würde dies Bryn erröten lassen? Vielleicht, weil es eines dieser Dinge war, die Erwachsene taten und Bryn hatte, ähnlich wie Peter Pan, geschworen niemals erwachsen zu werden. Oder vielleicht war es ihrer Party-liebenden Schwester peinlich, zuzugeben, sie könnte genauso viel Spaß dabei haben, mit ihrem Liebhaber Lampen auszuwählen, wie damals, als sie noch die Nächte in New Yorker Nachtclubs durchtanzte. Oder... „Wenn du Einrichtung sagst, meinst du keine dekorative Porzellankatze für den Kaminsims, oder?“, fragte Keira und drehte ihren Kopf, um einen besseren Blick auf Bryns Gesicht zu bekommen. „Nein“, antwortete Bryn in ihrer gleichen Sing-sang-Stimme. „Ich meine eher Möbel.“ Keira schnappte nach Luft. „Warum suchst du Möbel mit Felix aus?“ Bryns Gesicht färbte sich sofort in einen tieferen Ton von Rot. „Er hat eine neue Wohnung, das ist alles. Es bedeutet überhaupt nichts. Höre auf mich so anzugucken!“ „Ziehst du bei ihm ein?“, forderte Keira mit einer weiteren schnellen Frage an ihre strauchelnde Schwester. „Ich weiß es nicht“, lachte Bryn. „Wer weiß?“ Sie vergrub ihr Gesicht hinter der Kaffeetasse, in einem Versuch ihr Grinsen zu verstecken, aber sie versagte kläglich. Es gab keine Kaffeetasse auf der Welt, die groß genug wäre, um Bryns breites Grinsen hinter sich zu verstecken. Keira war erstaunt. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte. Ihre Schwester war endlich gezähmt worden. Die Dramatik war fast einen ihrer Artikel wert! „Aber egal, höre auf zu versuchen, das Thema zu wechseln“, sagte Bryn plötzlich. „Wir sprachen über dich und darüber, dass du zum Stubenhocker wirst. Du kannst nicht noch ein Wochenende zu Hause verbringen. Bitte geh raus und unternehme etwas. Es ist wirklich nicht gut für dich, den ganzen Tag drinnen herumzusitzen.“ „Es ist kalt draußen“, stöhnte Keira. „Und?“, antwortete Bryn. „Setze eine Mütze auf! Du wurdest in New York City geboren und bist hier aufgewachsen, du kannst die Kälte ab!“ Keira kaute auf ihrer Lippe. Sie erinnerte sich an eine Nachricht, die sie gestern Abend von Shelby erhalten hatte. Sie hatte ihr noch nicht geantwortet, aber ihre Freundin hatte sie zu einer Party am Samstagabend eingeladen, was heute war. „Ich gehe heute Abend übrigens aus“, erzählte Keira Bryn in einem selbstgefälligen Ton. „Wirklich?“, fragte Bryn und zog mit offensichtlichem Unglauben eine Augenbraue hoch. „Ja“, antwortete Keira unverblümt. „Ich gehe zu einer Party. Ich wollte dich fragen, ob du mitkommst.“ „Das freut mich zu hören. Aber ich kann nicht. Felix und ich werden einen ruhigen Abend haben.“ Keira lachte laut los: „Wer bist du?“ Bryn lachte. Mit einem leichten Schulterzucken sagte sie: „Menschen ändern sich.“ Als Keira mit nicht mehr als einem kleinen Grunzen antwortete, setzte sich Bryn neben sie hin und streichelte ihr über den Rücken. Es war ungewöhnlich für Bryn, so fürsorglich zu sein. „Ich weiß, dass dein Herz schmerzt“, sagte sie in einer beruhigenden, mütterlichen Stimme. „Aber im Schmerz zu versinken, wird dir nicht helfen zu heilen. Du musst aufstehen und dem Tag ins Auge sehen. Eine Dusche wird dir guttun.“ „In Ordnung“, grummelte Keira. „Ich habe schon verstanden.“ Sie stand von der Couch auf. Ihre Muskeln schmerzten. Und ihr verspannter Hals wurde langsam zu einer permanenten Angelegenheit. „Ich werde schon weg sein, wenn du fertig bist“, sagte Bryn. „Okay, viel Spaß wünsche ich dir“, sagte Keira. „Sag Hallo zu Felix von mir.“ Bryn wurde sofort wieder rot. Keira ging ins Badezimmer und schüttelte ihren Kopf, erstaunt über die komplette Verwandlung von Bryn. Es war außerordentlich, wie sehr die Liebe eines Mannes ihre Schwester verändert hatte, dachte sie, während sie ihren schmuddeligen Schlafanzug auszog und das Wasser in der Dusche aufdrehte. Sie stieg in die Kabine und schloss die Tür hinter sich. Als das Wasser über ihre Haare und Haut lief, staunte sie über den Rollentausch, durch den sie und ihre Schwester gingen. So viel Bryn sich zum Besseren gewandelt hatte, fühlte Keira sich, als hätte sie sich zum Schlechteren verändert. Das Ende der Beziehung mit Cristiano hatte sie wie ein Blitz getroffen. Es hatte sogar einen schlechten Einfluss auf ihre Arbeit. Elliot wollte sie unbedingt wieder auf Reisen schicken, für ihren nächsten Auftrag, aber sie hatten bereits drei Mal deswegen zusammengesessen und jedes Mal hatte Keira eine Ausrede gefunden, sich nicht auf einen Ort festlegen zu müssen. Wenn er drängelte, erinnerte sie ihn daran, wie er ihr nach dem letzten Auftrag mehr kreative Freiheit versprochen hatte und das würde ihn für einen Moment zum Schweigen bringen. Aber es konnte nicht für immer so weitergehen, das wusste sie. Genau wie in Bryns Wohnung zu wohnen und auf ihrer Couch zu schlafen, keine Dauerlösung war. Keira würde sich früher oder später zusammenreißen müssen. Sie spülte den Schaum aus ihren Haaren und realisierte, dass Bryn recht gehabt hatte. Eine Dusche war genau, was sie brauchte, um ihren Geist in Schwung zu bringen. Vielleicht würde es gut für sie sein, heute Abend auf eine Party zu gehen, selbst wenn sie sich nicht danach fühlte. Manchmal sind, was du willst und was du brauchst, zwei verschiedene Dinge, sagte sie zu sich selbst. Diese Worte waren zu ihrem persönlichen Motto geworden, wann immer sie sich selbst wegen der Dinge, die mit Cristiano passiert waren, fertig machte. Nur weil sie ihn wollte, hieß das nicht, dass er der Richtige für sie war. Und dennoch, manchmal war es leichter, ihren eigenen Worten zu glauben, als denen von anderen. Sie stieg aus der Dusche und wickelte sich in frische Handtücher ein. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, um ein paar frische Sachen für den Tag zu finden. Alle ihre Sachen waren noch in Kisten und Koffern, aber sie hatte sich jetzt an diese Art zu leben so sehr gewöhnt, dass sie wusste, wo sie die meisten Dinge finden konnte. Das Oberteil, welches sie suchte, würde sich im Schuhkarton unter dem Kaffeetisch befinden. Sie hockte sich hinunter um heranzukommen. Als sie dies tat, fiel ihr Blick auf ihr Handy. Sie bekämpfte den gewöhnlichen Drang nachzuschauen, ob Cristiano sich gemeldet hatte und griff stattdessen nach der Kiste und wühlte darin nach dem Oberteil, das sie wollte. Als sie es herauszog, erinnerte sie sich an das letzte Mal, als sie es getragen hatte: Paris, während einem ihrer romantischen Spaziergänge durch die verregnete Stadt. Ihr Herz schmerzte spürbar und sie ließ das Oberteil fallen und griff nach ihrem Handy, alle Willenskraft war plötzlich verschwunden. Sie hatte keine Benachrichtigungen, aber prüfte jede App einzeln nur für den Fall, dass er sich entschlossen hatte, sie auf eine etwas unauffälligere Art zu kontaktieren, wie beispielsweise ein „Gefällt mir“ auf einem ihrer Fotos zu hinterlassen oder durch das Teilen eines Links zu einer relevanten Nachrichtenmeldung auf ihrer Pinnwand. Mit einem traurigen Seufzen merkte Keira, dass da nichts war. Cristiano hatte keinen Versuch unternommen, sie zu erreichen, nicht einmal ganz dezent, seit sie die Beziehung am Charles de Gaulle Flughafen beendet hatte. Das unangenehme Gefühl in Keiras Brust ließ Keira realisieren, wie sehr sie es brauchte, ihre Freundinnen heute Abend zu sehen. Eine Party war vielleicht nicht die beste Umgebung für sie im Moment, aber Zeit mit Maxine und Shelby zu verbringen, würde ihr guttun. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie fühlen, dass sie sich auf menschliche Gesellschaft freute. * Keira eilte die Treppenstufen zu Shelby und Davids Haus hinauf. Es war eiskalt und sie trug nur in ein fast nicht existierendes, kleines schwarzes Kleid. Sie zitterte auf der Treppe, als sie immer wieder die Türklingel drückte, ungeduldig, dass jemand die Tür für sie öffnete.
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