Auf der See-2

2009
„Es war fünf Jahre, bevor ich dich kennen lernte, Richard“, fuhr Sir Joseph fort. „Sechs Jahre“, bemerkte Fräulein Graybrooke. „Entschuldige, Lavinia.“ „Nein, Joseph, es steht in meinem Tagebuch.“ „Lassen wir den Punkt auf sich beruhen.“ Das war die Formel, deren sich Sir Joseph regelmäßig bei solchen Angelegenheiten als eines Mittels bediente, seine Schwester sofort wieder zu versöhnen und einen frischen Anlauf für seine Erzählung zu gewinnen. „Ich kreuzte vor der Mündung der Mersey in einem Liverpooler Lotsenboote. Ich hatte das Boot gemeinschaftlich mit einem Freunde gemietet, welcher früher in der Londoner Gesellschaft eine bekannte Persönlichkeit unter dem Spitznamen ‚Mahagony-Dobbs‘ gewesen war. Den Spitznamen hatte er der Farbe seines Backenbarts zu verdanken.“ Richard Turlingtons harte Finger trommelten ungeduldig auf dem Tisch. Er blickte nach Natalie hinüber. In Ermanglung einer andern Beschäftigung legte sie ihre Stückchen Schinken auf ihrem Teller zu einem Muster zurecht. Launcelot Linzie sah anscheinend ganz gedankenlos nach dem Muster. Sie Joseph fuhr in seiner Erzählung fort: „Wir kreuzten zehn oder zwölf Meilen vor der Mündung der Mersey.“ „Seemeilen, Joseph.“ „Darauf kommt es nicht an, Lavinia.“ „Entschuldige, lieber Bruder, der verstorbene große, vortreffliche Doktor Johnson pflegte zu sagen, man müsse sich selbst in den geringfügigsten Dingen immer der größten Genauigkeit befleißigen.“ „Es waren gewöhnliche Meilen, Lavinia.“ „Es waren Seemeilen, Joseph.“ „Lassen wir den Punkt auf sich beruhen. Mahagony-Dobbs und ich waren eben unten in der Kajüte damit beschäftigt - “. Hier hielt Sir Joseph mit seinem liebenswürdigen Lächeln inne, um sich zu besinnen. Fräulein Lavinia wartete ihrerseits mit ihrem liebenswürdigen Lächeln auf die nächste Gelegenheit, ihren Bruder zu berichtigen. In demselben Augenblick legte Natalie ihr Messer nieder und berührte Launce leise unter dem Tisch. Auf ihrem Tisch waren sechs Stückchen Schinken in einer Weise zurecht gelegt, welche in der zwischen Beiden verabredeten originellen Zeichensprache bedeutete: „Ich muß dich allein nach dem Frühstück sprechen.“ Während Natalie wieder zu ihrem Messer griff, um neue Zeichen vorzubereiten, fuhr Sir Joseph in seiner Erzählung fort: „Wir waren beide unten in der Kajüte beschäftigt, unser Mittagessen zu beenden, als wir plötzlich durch den auf dem Verdeck erschallenden Ruf: ‚Ein Mann über Bord!‘ erschreckt wurden. Wir liefen beide die Kajütentreppe hinauf, natürlich in der Besorgnis, daß einer von unserer Mannschaft über Bord gefallen sei: eine Besorgnis, die, wie ich hinzufügen muß, von dem Steuermann, der den Ausruf getan hatte, geteilt wurde.“ Sir Joseph hielt wieder inne. Er näherte sich einem der spannendsten Momente seiner Erzählung und wollte diesen Moment natürlich gern möglichst ergreifend wiedergeben. Den Kopf auf die Seite geneigt, überlegte er einen Augenblick. Fräulein Lavinia hielt ihren Kopf ein wenig auf die andere Seite geneigt, und überlegte ihrerseits auch ein wenig. Natalie legte ihr Messer wieder nieder und berührte Launce mit der Fußspitze unter dem Tisch. Dieses Mal lagen fünf Stückchen Schinken in einer waagerechten Linie auf dem Teller und ein Stück unmittelbar unter der Mitte dieser Linie. In der Zeichensprache bedeutete diese Figur zwei verhängnisvolle Worte: „Schlechte Nachrichten!“ Launce sah mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Besitzer der Yacht hinüber und fragte damit: „Steckt er dahinter?“ Nataliens Antwort bestand in einem Zusammenziehen ihrer Brauen, und das hieß: „Allerdings!“ Launce sah wieder nach dem Teller. Sofort schob Natalie die sämtlichen Stückchen Schinken zu einem Haufen zusammen und sagte damit: „Ich habe nichts mehr zu sagen.“ - - „Nun?“ sagte Richard Turlington zu Sir Joseph gewandt in scharfem Tone, „fahre fort mit deiner Geschichte. Was kommt nun?“ Bis jetzt hatte er es nicht der Mühe wert gehalten, auch nur scheinbar ein höfliches Interesse an der fortwährend unterbrochenen Erzählung seines alten Freundes zu nehmen. Erst bei den letzten Worten Sir Josephs, als er zu verstehen gab, daß es sich im Verlauf seiner Erzählung vielleicht ergeben werde, daß der über Bord gefallene Mann keiner von der Mannschaft des Lotsenbootes gewesen sei – erst bei diesen Worten lehnte sich Turlington in seinem Stuhl zurück und gab zu erkennen, daß er plötzlich ein lebhaftes Interesse an dem Fortgang der Erzählung nehme. Sir Joseph fuhr fort: „Sobald wir aufs Verdeck kamen, sahen wir den Mann im Wasser hinter dem Schiff. Unser Rettungsboot wurde herabgelassen und der Kapitän und einer von der Mannschaft steiegen hinein und ergriffen die Ruder. Unsere Mannschaft bestand alles in allem aus sieben Mann. Davon waren zwei eben ins Rettungsboot gestiegen, ein Dritter war am Steuer und die übrigen vier standen hinter mir, so daß uns also in der Tat niemand von unserer Mannschaft fehlte. In demselben Augenblick rief Mahagony-Dobbs, der eben durch ein Fernglas sah: ‚Wer zum Teufel kann das sein? Der Mann treibt auf einem Hühnerkorb und wir haben gar keinen solchen Korb an Bord gehabt.‘“ Der einzige unter den Anwesenden, der, als Sir Joseph diese Worte aussprach, zufällig Richard Turlingtons Gesicht beobachtete, war Launcelot Linzie. Er, und nur er sah, wie die dunkle Gesichtsfarbe des levantinischen Kaufmanns sich allmälig in ein fahles Aschgrau verwandelte, während seine Augen mit einem unheimlichen Glanz, wie er dem Blicke wilder Bestien eigen ist, auf Sir Joseph Graybrooke geheftet waren. Obgleich er Launce nicht ansah, wurde er doch offenbar gewahr, daß dieser ihn beobachte, stützte daher seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand, um denselben so, während die Erzählung ihren Fortgang nahm, wirksam gegen die Beobachtung des jungen Arztes zu schützen. „Der Mann wurde an Bord gebracht“, fuhr Sir Joseph fort, „und zwar wirklich mit einem Hühnerkorbe, auf dem er getrieben hatte. Der arme Kerl war blau vor Angst und Kälte; als wir ihn aufs Deck hoben, wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, erzählte er uns eine gräßliche Geschichte. Er war ein kranker, hilfloser Matrose gewesen und hatte sich in dem Schiffsraum eines englischen Schiffes versteckt, das nach einem Hafen seines Vaterlandes bestimmt, und an jenem Morgen von Liverpool abgesegelt war. Bald nach der Abfahrt war er entdeckt und vor den Kapitän gebracht worden. Der Kapitän, ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt -“ Noch ehe sir Joseph ein Wort weiter sagen konnte, erschreckte Turlington die kleine Gesellschaft in der Kajüte, indem er mit den Worten aufsprang: „Die Brise, endlich die Brise!“ Dabei eilte er nach der Kajütentüre, so daß er seinen Gästen den Rücken zukehrte und lief aufs Verdeck. „Woher kommt der Wind?“ „Es ist keine Spur von Wind, Herr“, gab der Steuermann zur Antwort. Auch in der Kajüte war nicht die geringste Bewegung des Schiffs bemerklich und kein Ton vernehmbar gewesen, der das Aufkommen des Windes verkündet hätte. Das war sicherlich ein sonderbares Mißverständnis von Seiten des Eigentümers der Yacht, eines seegewohnten Mannes, der erforderlichenfalls sein eigenes Schiff hätte führen können. Er kehrte zu seinen Gästen zurück und entschuldigte sich mit einer übertriebenen Höflichkeit, die ihm zu andern Zeiten und bei andern Gelegenheiten durchaus nicht eigen war. „Fahre fort“, sagte er zu Sir Joseph, als er mit seinen Entschuldigungen zu Ende war, „ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so interessante Geschichte gehört. Bitte, fahre fort!“ Aber anstatt die beiden harmlosen, alten Leute zu ermutigen, erschreckte er sie, als er sich ihnen in einer fast herausfordernden Stellung gegenübersetzte, die Ellenbogen vor sich auf den Tisch legte, und sie mit dem Ausdruck einer finstern Entschlossenheit ansah, als wolle er zu erkennen geben, daß er bereit sei, nötigenfalls den Rest seines Lebens da zu sitzen und zuzuhören. Launce verstand es, Sir Joseph wieder in Gang zu bringen, indem er seinen Onkel fragte: „Sie wollen doch nicht sagen, daß der Kapitän jenes Schiffes den Mann habe über Bord werfen lassen?“ „Allerdings, Launce! Der arme Bursche war zu krank gewesen, um seine Passage abzuarbeiten. Der Kapitän hatte erklärt, er wolle keinen fremden Tagedieb an Bord haben, welcher fleißigen Engländern ihre Vorräte aufzehre. Mit eigenen Händen warf er den Hühnerkorb in das Wasser und mit Hilfe eines seiner Matrosen den Mann hinterher, indem er ihm zurief, er möge mit der Abendluft wieder nach Liverpool treiben.“ „Das ist eine Lüge!“ rief Turlington, nicht gegen Sir Joseph, sondern gegen Launce gewandt. „Kennen Sie die Geschichte?“ fragte Launce ruhig. „Ich weiß nichts von der Geschichte, sonder weiß nur aus eigener Erfahrung, daß fremde Matrosen noch größeres Gesindel sind, als englische Matrosen. Der Kerl war ohne Zweifel verunglückt. Seine ganze Geschichte aber war offenbar erlogen, um Sir Josephs Mitleid zu erregen.“ Sir Joseph schüttelte sanft den Kopf. „Das war keine Lüge, Richard. Es ist durch Zeugen bewiesen, daß der Mann die Wahrheit gesprochen hat.“ „Zeugen? Pah! Andere Lügner, willst du sagen.“ „Ich ging zu den Eigentümern des Schiffes“, fuhr Sir Joseph fort. „Ich erfuhr von ihnen die Namen der Schiffsoffziere und der Mannschaft, und zeigte den Fall bei der Liverpooler Polizei an. Das Schiff scheiterte an der Mündung des Amazonenflusses, aber Mannschaft und Ladung wurden gerettet. Die Mannschaft, die nach Liverpool gehörte, kehrte dahin zurück. Das war böses Volk, das könnt ihr mir glauben! Aber sie wurden jeder einzeln über die Behandlung des fremden Matrosen vernommen und sagten ganz übereinstimend aus. Von ihrem Kapitän und dem Matrosen, der ihm bei dem Verbrechen behilflich gewesen war, wußten sie nichts, als daß dieselben sich auf dem Schiffe, das die übrige Mannschaft nach England zurückgebracht habe, nicht mit eingeschifft hätten. Was auch seitdem aus dem Kapitän geworden sein mag, gewiß ist, daß er nie nach Liverpool zurückkehrte.“ „Hast du seinen Namen herausgebracht?“ fragte Turlington. Selbst Sir Joseph, der ein außerordentlich schlechter Beobachter war, entging es nicht, daß Turlington diese Frage in einem unerklärlich pikierten Tone tat. „Ereifere dich nicht, Richard“, sagte der alte Herr. „Ich weiß nicht, was du meinst. Ich ereifere mich gar nicht, ich bin nur neugierig. Hast du herausgebracht, wer es gewesen ist?“ „Allerdings. Er hieß Howard – er war in Liverpool sehr wohl bekannt als ein höchst schlauer und äußerst gefährlicher Mensch. Er war zu der Zeit, von der ich rede, noch ganz jung und ein ausgezeichneter Kapitän, berühmt und berüchtigt wegen seiner Bereitwilligkeit, die Führung seeuntüchtiger, aber hoch in der Assekuranz stehender Schiffe und den Befehl über hergelaufenes Gesindel zu übernehmen. Wie man mir erzählte, hatte er sich für einen Mann in seiner Stellung, auf diese Weise – im Dienst schlecht berufener Firmen, wobei er vor keiner noch so schlimmen Gefahr zurückschreckte – schon ein hübsches Vermögen erworben. Ein gefährlicher Spitzbube, Richard! Mehr als einmal war er schon in Europa und Amerika durch Akte grausamer Gewalttätigkeit dem Gesetze verfallen. Er wird wohl schon lange tot sein.“ „Oder vielleicht“, sagte Launce, „lebt er noch unter einem anderen Namne und hat sein Glück auf einem anderen Wege unter neuen verzweifelten Gefahren anderer Art gemacht.“ „Kennen Sie die Geschichte?“ fragte Turlington, indem er Launce seine Frage in einem scharf herausfordernden Tone zurückgab. „Was ist denn aus dem fremden Matrosen geworden, Papa?“ fragte Natalie dazwischen, indem sie Launce absichtlich zuvorkam, bevor er die in gereiztem Tone an ihn gerichtete Frage in gereiztem Tone beantworten konnte. „Wir brachten etwas für ihn zusammen, liebes Kind, und wandten uns an sinen Konsul. Der arme Kerl kam so auf ganz gute Weise nach seinem Vaterlande zurück.“ „Und damit ist Sir Josephs Geschichte zu Ende“, sagte Turlington, indem er sich von seinem Sitze erhob. „Schade, daß wir nicht einen Schriftsteller an Bord haben, der könnte eine Novelle daraus machen.“ Als er aufgestanden war, sah er nach dem Oberlicht hinauf. „Da haben wir aber endlich die Brise, und dieses Mal irre ich mich nicht!“ rief er aus. Es verhielt sich wirklich so. Endlich war die Brise da. Die Segel pauschten sich, der Hauptmast knarrte und das endlich wieder in Bewegung gekommene Wasser fing an, die Schiffswände mit munteren Wellen zu bespülen. „Komm aufs Verdeck und schöpfe ein wenig frische Luft, Natalie“, sagte Fräulein Lavinia, indem sie nach der Kajütentüre voranging. Natalie hob den Rock ihres Nankinganzuges etwas in die Höhe, und ließ dadurch sichtbar werden, daß von dem roten Besatz mehrere Ellen abgerissen waren. „Laß mich erst noch eine halbe Stunde in meiner Kabine das wieder in Ordnung bringen, Tante“, sagte sie. Fräulein Lavinia zog ihre ehrwürdigen Augenbrauen erstaunt empor. „Liebes Kind“, sagte sie, „seit du auf Herrn Turlingtons Yacht bist, hast du fortwährend deine Kleider zerrissen. Das ist doch höchst sonderbar! Ich habe mir während der ganzen Fahrt noch nichts an meinem Zeuge zerrissen.“ Nataliens dunkler Teint wurde noch eine Nuance dunkler. Sie lachte etwas gezwungen. „Ich bin so ungeschickt am Bord“, antwortete sie – und damit wandte sie sich ab und schloß sich in ihre Kabine ein. Richard Turlington zog seine Zigarrentasche hervor. „Jetzt“, sagte er zu Sir Joseph, „ist die Zeit für die beste Zigarre am Tage – die Zigarre nach dem Frühstück! Komm mit aufs Deck.“ „Kommst du mit hinauf, Launce?“ sagte Sir Joseph zu diesem. „Laß mich erst eine halbe Stunde studieren“, erwiderte Launce. „Ich darf meine medizinischen Kenntnisse auf der See nicht einrosten lassen, und später am Tage werde ich wohl keine Lust zu den Büchern haben!“ „Ganz recht so, lieber Junge, recht so!“ - Dabei klopfte Sir Joseph seinem Neffen wohlgefällig auf die Schulter. Launce ging seines Weges und schloß sich in seine Kabine ein. Die drei andern gingen zusammen aufs Verdeck. Kapitel 2
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