Auf der See-1

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Auf der SeeDie Nacht war vorüber. Kein Windhauch regte sich in den Lüften, keine Welle zeigte sich auf der regungslos daliegenden Meeresfläche. Nichts veränderte sich, als die langsam aufsteigende Sonne; nichts bewegte sich, als der träge Nebel, der ihr im Osten der See entgegenwallte. Nach und nach wurde der Morgennebel im Aufsteigen dünner und dünner, bis er bei dem ersten Strahl der hervortretenden Tageskönigin die langen weißen Segel einer Vergnügungsjacht sichtbar werden ließ. „Blase, blase, kleine Brise!“ sagte der Mann am Steuerruder, indem er den Anruf des Seemannes an den Wind leise vor sich hin flötete. „Blase, blase, kleine Brise!“ „Woher kommt sie?“ fragte eine tiefe dröhnende Stimme, die von der Kajütentreppe aus über das Verdeck hindrang. „Woher Ihr wollt, Herr, von jedem Punkt der Windrose.“ Der Stimme folgte ihr Besitzer, der Eigentümer der Yacht. Das war Herr Richard Turlington von der großen mit der Levante handelnden Firma Pizzituti, Turlington & Branca, achtunddreißig Jahre alt, eine feste, straffe Gestalt von nicht mehr als fünf Fuß sechs Zoll Höhe, mit einem Gesicht, das aus verschiedenen geraden Linien bestand. In diesem geradlinigen Bau bildeten Stirn und Oberlippe je eine Linie, die geradeste und längste dieser Linien aber bildete das Kinn. Als Turlington sein dunkles Antlitz nach Osten wendete und seine lichtgrauen Augen gegen die Sonne beschattete, zeigte seine rauhe Hand deutlich, daß sie ihm schon einmal in seinem Leben mit ihrer harten Arbeit seinen Unterhalt verschafft haben mußte. Alles in Allem war er ein Mann, vor dem man leicht Respekt haben, den man aber schwer lieben konnte. „Gestern Windstille“, brummte Richard Turlington, indem er verdrossen und nachdenklich nach allen Seiten hin umherschaute; „und heute wieder Windstille. Im nächsten Jahr will ich eine Dampfmaschine auf dem Schiffe herrichten lassen.“ „Denken Sie doch an die schmutzigen Kohlen und an das verfluchte Zittern und lassen Sie Ihre schöne Yacht wie sie ist. Wir sind ja nur auf einer Vergnügungsfahrt. Lassen Sie doch den Wind und die See auch ihr Vergnügen haben.“ Mit diesen Worten trat ein schlanker, gewandter junger Mann mit gelocktem Haar zu Richard Turlington auf das Verdeck, er trug seine Kleider unter dem Arm, ein paar Handtücher in der Hand und hatte nichts auf dem Leibe als das Nachthemd, in welchem er aus dem Bette gestiegen war. „Launcelot Linzie, Sie haben auf meinem Schiff in der Eigenschaft eines ärztlichen Begleiters des Fräuleins Natalie Graybrooke auf den Wunsch ihres Vaters Aufnahme gefunden. Bleiben Sie Ihrer Stellung gefälligst eingedenk. Wenn ich Ihren Rat wünsche, werde ich Sie darum bitten.“ Launcelot Linzie war offenbar entschlossen, dem Eigentümer der Yacht unter keinen Umständen zu gestatten, ihn zu beleidigen. „Ich danke Ihnen“, erwiderte er in einem gutmütig ironischen Tone, „es wird mir leicht, hier an Bord meiner Stellung eingedenk zu bleiben. Ich bin so anmaßend, mich meines Lebens hier ganz so zu erfreuen, als wäre ich selbst der Eigentümer des Schiffes. Das Leben auf der See ist für mich so neu! So ist es zum Beispiel so köstlich leicht, hier sich zu waschen. Auf dem festen Lande ist das Waschen eine durch Krüge, Schalen und Kübel höchst komplizierte Angelegenheit; man ist immer in Gefahr, etwas zu zerbrechen oder zu verderben. Hier braucht man nur aus dem Bette zu springen, aufs Deck zusteigen und dies zu tun.“ Dabei drehte er sich um, lief nach dem Bugspriet, warf sein Nachthemd ab, sprang auf den Rand der Schanzkleidung und tummelte sich im nächsten Augenblick behaglich in dem Salzwasser der sechzig Faden tiefen See. Turlingtons Augen folgten ihm mit einer widerstrebend unbehaglichen Aufmerksamkeit, als Linzie um das Schiff herum schwamm. „Launcelot Linzie ist fünfzehn Jahre jünger als ich, und dazu ist er Natalie Graybrookes Vetter. Diese beiden Vorteile hat er unstreitig vor mir voraus; bleibt die Frage: hat er Nataliens Neigung gewonnen?“ - Mit dieser Frage, die er sich wieder und wieder vorlegte, beschäftigt, setzte sich Richard Turlington in eine Ecke auf dem Hinterdeck. Er grübelte noch über diesem Problem, als der junge Arzt in seine Kabine zurückkehrte, um die letzte Hand an seine Toilette zu legen. Er hatte die Lösung des Problems noch nicht gefunden, als der Steward eine Stunde später mit den Worten vor ihn trat: „Das Frühstück ist fertig, Herr.“ Fünf Personen saßen eine Weile später um den Kajütentisch. Die erste war: Sir Joseph Graybrooke, Erbe eines schönen, von seinem Vater und Großvater erworbenen Vermögens; erwählter Major einer blühenden Provinzialstadt; ein Mann mit einem liebenswürdigen rosigen Gesicht, weichem, weißem, seidenem Haar und sorgfältiger Toilette, von gesunden, politischen Grundsätzen und mit guter Verdauung gesegnet – ein harmloser, gesunder, makelloser, aber charakterschwacher, alter Mann. Die zweite: Fräulein Lavinia Graybrooke, Sir Josephs altjüngferliche Schwester, ihrem ganzen Wesen nach das zweite Ich von Sir Joseph im Unterrock. Wenn man den Einen kannte, kannte man auch die Andere. Die dritte: Fräulein Natalie Graybrooke, Sir Josephs einziges Kind. Sie hatte von ihrer schon lange verstorbenen Mutter die äußere Erscheinung und das Temperament geerbt. In der aus Martinique stammenden Familie der verstorbenen Lady Graybrooke hatte eine Mischung französischen Bluts mit Negerblut stattgefunden. Natalie hatte den warmen dunklen Teint, das prächtige schwarze Haar und die schmelzenden, trägen, lieblichen, braunen Augen ihrer Mutter. Im Alter von fünfzehn Jahren, das sie kürzlich erreicht hatte, war ihr Körper in einer Weise entwickelt, wie es bei englischen Mädchen selten vor dem zwanzigsten Jahr der Fall ist. Alles an ihr hatte etwas großartig Amazonenhaftes. Ihre schön geformte Hand war lang und breit, ihre Taille schien, obgleich sie zierlich war, doch einer Frau anzugehören. Die graziöse Nachlässigkeit aller ihrer Bewegungen wurzelte in einer fast männlichen Körperkraft. Dieser merkwürdigen körperlichen Entwicklung ging aber keineswegs eine gleich amazonenhafte Entwicklung des Charakters zur Seite. Natalie hatte das sanfte Wesen eines unschuldigen jungen Mädchens. In ihrem Charakter mischten sich das gleichmäßige Temperament ihres Vaters mit der wandelbaren südlichen Natur ihrer Mutter. Sie bewegte sich wie eine Göttin und lachte wie ein Kind. Im verflossenen Frühjahre hatten sich bei Natalie die Symptome einer zu raschen körperlichen Entwicklung – eines nach dem üblichen Ausdruck „Ausderkraftwachsens“ - gezeigt. Der Hausarzt hatte eine Seereise als die beste Art, die schönen Sommermonate zu benutzen, angeraten. Wie man auf dem Kontinent eine Sommerwohnung auf dem Lande bezieht, so richtet man in England sich ein bequemes Schiff ein und schlägt sein luftiges Domizil auf der offenen See auf. Richard Turlingtons Yacht war ihr nebst Richard Turlington selbst, als einem der zur Yacht gehörigen niet- und nagelfesten Gegenstände, zur Verfügung gestellt worden. Mit ihrem Vater und ihrer Tante, in deren Gesellschaft sie die häusliche Atmosphäre nicht vermissen würde, und mit dem Vetter Launcelot – gewöhnlich kurzweg Lance genannt – als ärztlichen Ratgeber, hatte sich die liebliche Patientin zu ihrer Sommerkreuzfahrt eingeschifft und war alsbald in der belebenden Seeluft zu einem andern Wesen geworden. Nach einer zweimonatlichen in glückseligem Müßiggang verbrachten Fahrt an den Küsten Englands war von Nataliens Krankheit nichts mehr übrig, als ein reizender, schmachtender Ausdruck der Augen und die absolute Unfähigkeit, sich mit irgend etwas zu befassen, was einer ernsten Beschäftigung auch nur entfernt ähnlich sah. Wie sie an jenem Morgen in ihrem wunderlich zugeschnittenen Seemansanzuge aus altmodischem Nanking am Frühstückstisch saß, und in der blühenden Reise ihrer Formen einen reizenden Kontrast mit der angebornen Kindlichkeit ihres Wesens darbot, hätte ein Mann fürwahr mit dem Rüstzeug der modernen Philosophie dreifach gewaffnet sein müssen, der diesem Anblick gegenüber hätte leugnen wollen, daß das erste Recht eines Weibes darin bestehe, schön zu sein, und ihr größtes Verdienst ihre Jugend sei. Die beiden noch übrigen Personen am Kajütentisch waren die beiden Herren, die wir bereits auf dem Verdeck der Yacht kennen gelernt haben. „Noch immer regt sich kein Lüftchen!“ sagte Richard Turlington. „Das Wetter muß etwas gegen uns haben. In den letzten achtundvierzig Stunden sind wir kaum vier oder fünf Meilen weiter gekommen. Sie werden gewiß nie wieder mit mir fahren wollen, Sie müssen sich danach sehnen, wieder ans Land zu kommen.“ Er richtete diese Worte an Natalie, mit ersichtlicher Beflissenheit, sich der jungen Dame angenehm zu machen; aber ohne daß es ihm gelungen wäre, irgend einen Eindruck auf sie hervorzubringen. Sie antwortete ihm höflich und blickte dabei auf ihre Teetasse, anstatt in Richard Turlingtons Gesicht. „In diesem Augenblick könnte man sich schon aufs feste Land versetzt glauben“, bemerkte Launce. „Das Schiff liegt ja so fest, wie ein Haus, und der Schaukeltisch, an dem wir frühstücken, steht so ruhig, wie Ihr Eßtisch zu Hause.“ „Es wird mir am Lande sonderbar vorkommen“, sagte jetzt das junge Mädchen, „mich in einem Zimmer aufzuhalten, das sich nie hin- und herbewegt, und an einem Tisch zu sitzen, der nie in einem Augenblick auf meine Knie herabsinkt und mir im nächsten bis ans Kinn steigt. Wie werde ich das Geräusch der Wellen an meinen Ohren und das Läuten der Glocke auf dem Verdeck entbehren, wenn ich am Lande des Nachts erwachen werde! Da wird man sich auch nicht mehr dafür interessieren können, wie der Wind weht, oder wie die Segel aufgesetzt sind; nicht mehr, wenn man seinen Weg verloren hat, die Sonne mit einem kleinen kupfernen Instrument, einem Stück Papier und einem Bleistift befragen; und nicht mehr so köstlich von der Stelle kommen, so oft der Wind einsetzt, ohne daß man nötig hätte, sich vorher lange mit der Überlegung zu plagen, wohin man gehen will. O, wie werde ich die liebe, veränderliche, unbeständige See entbehren! Und wie beklage ich es, kein Mann und kein Seemann zu sein!“ Das Alles sagte sie zu Launce, dem auf dem Schiff gewissermaßen nur geduldeten Gast, während sie sich bei keinem ihrer Worte, wenn auch nur zufällig, an den Eigentümer der Yacht wandte. Richard Turlingtons dicke Augenbrauen zogen sich mit einem unverkennbaren Ausdruck peinlichen Mißbehagens zusammen. „Wenn diese Windstille anhält“, fuhr er zu Sir Joseph gewandt fort, „fürchte ich, Graybrooke, werde ich nicht im Stande sein, Euch bis Ende der Woche in den Hafen zurückzubringen, von dem wir ausgesegelt sind.“ „Immerhin, Richard“, antwortete der alte Herr resigniert. „Mir ist jede Zeit recht.“ „Jede Zeit innerhalb gewisser Grenzen, Joseph“, bemerkte Fräulein Lavinia, die offenbar fand, daß ihr Bruder in seinem Zugeständnis zu weit gehe. Sie sprach mit Sir Josephs liebenswürdigem Lächeln und Sir Josephs sanft gedämpfter Stimme. Zwei Zwillingskinder hätten einander nicht ähnlicher sein können. Während diese wenigen Worte unter der den älteren Personen gewechselt wurden, nahm unter dem Kajütentisch eine vertrauliche Unterhaltung der jungen Leute ihren Fortgang. Nataliens mit einem zierlichen Pantoffel bekleideter Fuß rückte auf dem Teppich vorsichtig Zoll für Zoll vor, bis er Launces Stiefel berührte. Launce, der damit beschäftigt war, sein Frühstück zu verzehren, blickte sofort von seinem Teller auf und sah dann anch einer Berührung Nataliens eiligst wieder nieder. Nachdem Natalie sie vergewissert hatte, daß sie nicht beobachtet werde, nahm sie ihr Messer in die Hand. Während sie sich mit großem Geschick den Anschein zu geben wußte, als spiele sie in Gedanken versunken mit dem Messer, fing sie an, mit demselben ein Stück Schinken, das am Rande ihres Tellers liegen geblieben war, in sechs kleine Stücke zu zerschneiden. Launces Auge folgte mit erwartungsvollen Seitenblicken der Zerteilung des Schinkens. Er wartete offenbar darauf, daß die einzelnen Stückchen Schinken in einer vorher zwischen seiner Nachbarin und ihm verabredeten Weise telegraphisch verwendet werden würden. Inzwischen nahm auch die Unterhaltung der übrigen Personen am Frühstückstisch ihren Fortgang. In diesem Augenblick aber wandte sich Fräulein Lavinia an den jungen Mann. „Weißt du wohl, daß du mich diesen Morgen recht erschreckt hast? - Ich schlief bei offenem Fenster in meiner Kabine und wurde durch ein furchtbares Aufspritzen des Wassers aufgeweckt. Ich rief die Stewardeß – ich glaubte wirklich, daß jemand über Bord gefallen sei.“ Bei diesen Worten blickte Sir Joseph plötzlich auf; die Worte seiner Schwester hatten zufällig die Erinnerung an ein altes Erlebnis bei ihm erweckt. „Was du von über Bord Fallen sagst“, fing er an, „erinnert mich an eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit -“ Hier fiel Launce ein, um sich zu entschuldigen. „Es soll nicht wieder vorkomen, Fräulein Lavinia“, sagte er, , „morgen früh will ich mich am ganzen Körper ölen und so leise wie eine Fischotter ins Wasser schlüpfen.“ „An eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit“, fuhr Sir Joseph fort, „die ich vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war, erlebte. Lavinia?“ Er hielt inne und sah seine Schwester fragend an. Fräulein Graybrooke nickte als Antwort mit dem Kopf und rückte sich auf ihrem Stuhle zurecht, wie wenn sie ihre Aufmerksamkeit in Voraussicht eines Appels an dieselbe im Voraus konzentrieren wolle. Für Leute, die Bruder und Schwester gut kannten, war diese Prozedur das Vorzeichen einer bevorstehenden Erzählung. Das Geschwisterpaar erzählte eine Geschichte immer gemeinschaftlich und zwar so, daß jedes von ihnen von jeder Tatsache immer eine von der des andern abweichende Auffassung hatte, indem die Schwester dem Bruder höflich widersprach, wenn die Erzählung von Sir Joseph, und der Bruder der Schwester höflich widersprach, wenn die Erzählung von Fräulein Lavinia begonnen wurde. Wenn sie von einander getrennt waren, und so des gewohnten Widerspruchs des andern entbehrten, konnten weder Bruder noch Schwester jemals den Versuch wagen, die einfachsten Tatsachen zu erzählen, ohne in ein unrettbares Stocken zu geraten.
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