VII-3

1754
»Mr. Hartright,« sagte sie, »wollen Sie einen Augenblick herkommen? Ich habe mit Ihnen zu sprechen.« Ich trat augenblicklich wieder in's Zimmer. Das Clavier nahm etwa die Mitte an der inneren Wand entlang ein. An dem von der Terrasse am entferntesten Ende des Instrumentes saß Miß Halcombe, auf deren Schooße die Briefe zerstreut lagen, von denen sie einen in der Hand und dicht an's Licht hielt. An dem Ende, das der Terrasse am nächsten war, stand ein niedriger Sessel, auf dem ich Platz nahm; ich war so nicht weit von der Glasthür und konnte deutlich Miß Fairlie sehen, wie sie wiederholt an derselben vorbei kam, indem sie langsam im hellen Glanze des Mondes von einem Ende der Terrasse bis zum anderen ging. »Bitte, hören Sie den Schluß dieses Briefes,« sagte Miß Halcombe, »und sagen Sie mir, ob derselbe irgendwie Licht auf Ihr sonderbares Abenteuer auf der Straße nach London wirft. Der Brief ist von meiner Mutter an ihren zweiten Gemahl, Mr. Fairlie, und vor ungefähr elf oder zwölf Jahren geschrieben. Zu jener Zeit hatten Mr. und Mrs. Fairlie und meine Stiefschwester Laura schon jahrelang in diesem Hause gelebt, und ich war abwesend, um meine Erziehung in Paris zu vollenden.« Ihre Sprache und ihr Aussehen waren ernst und, wie mir es schien, auch ein wenig unruhig. In dem Augenblicke, wo sie den Brief zum Lichte empor hielt, ehe sie anfing, ihn zu lesen, ging Miß Fairlie an der Glasthür vorüber und schaute einen Augenblick zu uns herein; da sie uns aber beschäftigt sah, ging sie langsam weiter. Miß Halcombe fing zu lesen an, wie folgt: »Es wird Dich langweilen, mein lieber Philipp, fortwährend von meinen Schulen und Schülerinnen zu hören. Aber ich bitte Dich, die langweilige Einförmigkeit unseres Lebens in Limmeridge und nicht mich deshalb zu tadeln. Uebrigens habe ich dir diesmal wirklich etwas Interessantes über eine neue Schülerin mitzutheilen. Du kennst doch die alte Mrs. Kempe im Dorfladen. Nun, nach jahrelanger Kränklichkeit hat der Arzt sie endlich aufgegeben und sie stirbt jetzt langsam Tag für Tag dahin. Ihre einzige lebende Verwandte, eine Schwester, kam vorige Woche hier an, um sie zu pflegen. Diese Schwester kommt den langen Weg aus Hampshire her, sie heißt Mrs. Catherick. Vor vier Jahren besuchte mich Mrs. Catherick und brachte ihr einziges Kind mit, ein liebliches kleines Mädchen, etwa ein Jahr älter als unsere liebe kleine Laura –« Bei dem Satze gerade ging Miß Fairlie wieder an der offenen Thür vorbei. Sie sang leise eine der Melodien vor sich hin, die sie zu Anfang des Abends gespielt hatte. Miß Halcombe wartete, bis sie ihrem Gesichtskreise entschwunden war, und fuhr dann mit dem Lesen ihres Briefes fort: »Mrs. Catherick ist eine anständige, wohlgesittete, respectable Frau; sie ist in den mittleren Jahren und zeigt Ueberreste, nach denen sie einmal ziemlich, nur ziemlich gut ausgesehen hat. Doch ist etwas in ihren Manieren und ihrer Erscheinung, das ich nicht verstehen kann. In Bezug auf sich selbst ist sie zurückhaltend bis zur Heimlichthuerei, und in ihrem Gesichte hat sie einen Ausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben – aber er verursacht mir ein Gefühl, als ob sie etwas auf dem Gewissen habe. Sie ist überhaupt, was man ein lebendiges Geheimnis nennen möchte. Was sie übrigens nach Limmeridge House führte, war einfach genug. Als sie Hampshire verließ, um die Pflege ihrer Schwester, Mrs. Kempe, in deren letzter Krankheit zu übernehmen, war sie genöthigt gewesen, ihre Tochter mitzunehmen, da sie zu Hause Niemanden hatte, dem sie die Sorge für das kleine Mädchen hätte anvertrauen können. Mrs. Kempe kann schon in einer Woche sterben oder auch noch monatelang daliegen; Mrs. Catherick kam daher, um mich zu bitten, ob nicht ihre kleine Tochter Anna an dem Unterrichte in meiner Schule theilnehmen dürfe, unter der Bedingung, daß sie nach Mrs. Kempe's Tode dieselbe wieder verlassen und mit ihrer Mutter heimkehren dürfe. Ich willigte augenblicklich ein, und als Laura und ich unseren Spaziergang machten, brachten wir das kleine Mädchen (das eben elf Jahre alt ist) schon an demselben Tage nach der Schule.« Miß Fairlie's Gestalt, so hell und weich in ihrem schneeigen Musselinkleide – ihr Gesicht von den weißen Falten des Taschentuches eingerahmt – ging noch einmal im Mondlichte an uns vorbei. Miß Halcombe hielt abermals inne, um sie vorüber zu lassen, und fuhr dann fort: »Ich habe eine große Zuneigung für meine neue Schülerin gefaßt, lieber Philipp, und zwar aus einem Grunde, den ich, um Dich zu überraschen, bis zuletzt aufbewahren will. Da ihre Mutter mir ebensowenig über ihr Kind wie über sich selbst mitgetheilt hatte, war es mir überlassen, zu entdecken, daß des armen kleinen Mädchens Verstand nicht ganz so entwickelt ist, wie er es in ihrem Alter sein sollte. Da ich dies gewahr wurde (was schon am ersten Tage der Fall war), ließ ich sie am folgenden Tage zu mir kommen und kam mit dem Arzte überein, daß er sie beobachten, befragen und mir dann sagen solle, was er von ihr denke. Er ist der Ansicht, daß es sich ändern wird, wenn sie aufwächst. Aber er sagt, daß ihre sorgfältige Erziehung in der Schule gerade jetzt von großer Wichtigkeit sei, da ihre ungewöhnlich langsame Auffassung andeutet, daß sie alle Eindrücke, die sie jetzt in sich aufnimmt, mit ungewöhnlicher Treue festhalten wird. Du mußt nun nicht gleich denken, lieber Philipp, daß ich eine Vorliebe für eine Blödsinnige gefaßt habe. Diese arme kleine Anna Catherick ist ein liebes, zärtliches, dankbares kleines Mädchen und sagt die drolligsten, niedlichsten Sachen (wie Du sogleich nach einem Beispiele selbst urtheilen sollst) auf eine höchst eigenthümliche, plötzliche und halb erstaunte, halb erschrockene Art. Obgleich sie höchst sauber gekleidet ist, so zeigen doch ihre Kleider in Farbe und Muster einen betrübenden Mangel an Geschmack. Demzufolge ließ ich gestern einige von unserer lieben Laura Kleidchen und weißen Hütchen für Anna Catherick ändern und erklärte ihr, daß kleine Mädchen von ihrer Haut- und Haarfarbe sauberer und besser in weiß aussähen als in sonst einer Farbe. Sie stockte und sah einen Augenblick verwirrt aus; dann erröthete sie plötzlich und schien mich zu verstehen. Ihre kleine Hand erfaßte plötzlich die meine. Sie küßte sie, Philipp, und sagte (o so ernstlich!): ›Ich will immer weiß tragen, solange ich lebe. Es wird mir helfen, mich an Sie zu erinnern, Madame, und zu glauben, daß ich Ihnen noch gefalle, wenn ich schon fort sein und Sie nicht mehr sehen werde.‹ Dies ist nur ein Beispiel von den niedlichen Sachen, die sie auf so allerliebste Weise sagt. Arme, kleine Seele! Sie soll einen Vorrath von weißen Kleidern haben, wenn sie fortgeht, mit guten, tiefen Säumen zum Auslassen, wenn sie größer wird –« Miß Halcombe hielt inne und blickte zu mir hinüber. »Schien die verlassene Frau, der Sie auf der Landstraße begegneten, jung zu sein?« fragte sie. »Nicht älter als zwei- bis dreiundzwanzig Jahre?« »Ja, Miß Halcombe, gerade in den Jahren.« »Und sie war seltsamerweise von Kopf bis zu Füßen in Weiß gekleidet?« »Von Kopf bis zu den Füßen in Weiß.« Als diese Antwort über meine Lippen ging, schwebte Miß Fairlie zum dritten Male auf der Terrasse an uns vorüber. Anstatt ihren Gang fortzusetzen, stand sie stille, mit dem Rücken uns zugewandt, und indem sie sich über das Gitterwerk lehnte, schaute sie in den unten liegenden Garten hinab. Meine Augen hefteten sich auf den weißen Schimmer ihres Kleides und Kopftuches im Mondlichte, und es beschlich mich ein Gefühl, für das ich keinen Ausdruck habe – ein Gefühl, das meine Pulse fliegen und mein Herz zittern machte. »Ganz in Weiß!« wiederholte Miß Halcombe. »Der wichtigste Theil des Briefes, Mr. Hartright, ist der am Schlusse, den ich Ihnen sogleich vorlesen will. Aber ich kann nicht umhin, ein wenig bei dem Zusammentreffen zwischen den weißen Kleidern des jungen Frauenzimmers, das Sie auf der Landstraße trafen, und den Kleidchen, welche die kleine Schülerin meiner Mutter ihrer seltsamen Antwort verdankte, zu verweilen. Der Arzt mag sich geirrt haben, als er den Mangel an Kopf in dem Kinde entdeckte und weissagte, daß sich das mit den Jahren verlieren werde. Sie mag ihm nie entwachsen sein, und die alte, dankbare Phantasie, sich immer in Weiß zu kleiden, die dem Kinde ein ernstes Gefühl war, mag der erwachsenen Frau noch dasselbe ernste Gefühl sein.« Ich sagte ein paar Worte der Erwiderung – ich weiß kaum, was. Meine ganze Aufmerksamkeit war ausschließlich auf den weißen Schimmer von Miß Fairlie's Musselinkleide gerichtet. »Hören Sie die letzten paar Sätze des Briefes,« sagte Miß Halcombe, »ich glaube, sie werden Sie in Erstaunen setzen.« Als sie den Brief zum Lichte erhob, wandte Miß Fairlie sich von dem Geländer, blickte zweifelhaft die Terrasse auf und ab, that einen Schritt nach der Glasthür zu und stand dann uns gegenüber still. Unterdessen las Miß Halcombe nur die letzten Sätze vor, deren sie erwähnt hatte: »Und jetzt, lieber Philipp, da ich an's Ende meines Papiers gelangt bin, zu der wirklichen Ursache, der erstaunlichen Ursache meiner großen Liebe zu dieser kleinen Anna Catherick. Mein lieber Philipp, obgleich nicht halb so hübsch, ist sie dennoch in Folge eines jener sonderbaren Spiele des Zufalls mit Ähnlichkeiten wie man sie zuweilen sieht, in Haar, Hautfarbe, Farbe der Augen und Gesichtsform das leibhafte Ebenbild ...« Ich sprang von meinem Sessel in die Höhe, ehe Miß Halcombe noch die nächsten Worte aussprechen konnte. Dasselbe Gefühl, welches mir die Berührung der Hand auf der einsamen Landstraße verursacht hatte, durchschauerte mich wieder. Da stand Miß Fairlie, eine einsame Gestalt im Mondlichte, in ihrer Haltung und der ihres Kopfes, in ihrer Hautfarbe und ihrer Gesichtsform, in jener Entfernung und unter jenen Verhältnissen das lebendige Ebenbild der – Frau in Weiß. Der Zweifel, der mich stundenlang gequält hatte, wurde in einem Augenblicke zur Gewißheit. Das Etwas, was mir gefehlt hatte, war – mein eigenes Erkennen der ominösen Ähnlichkeit zwischen der aus der Irrenanstalt Entflohenen und der Erbin von Limmeridge House! »Sie sehen es!« sagte Miß Halcombe. Sie ließ den Brief fallen, und ihre Augen blitzten, als sie den meinigen begegneten. »Sie sehen es jetzt, wie meine Mutter es vor elf Jahren sah!« »Ich sehe es – und es betrübt mich mehr, als ich es sagen kann. Jene hilflose, freundlose, verlassene Frau auch nur durch eine zufällige Ähnlichkeit mit Miß Fairlie in Verbindung zu bringen, sieht aus, als ob man einen Schatten auf die Zukunft eines so strahlenden Wesens, wie das, welches jetzt vor uns steht, werfen wollte, lassen Sie mich so schnell wie möglich den Eindruck los werden. Rufen Sie Miß Fairlie fort aus dem entsetzlichen Mondlichte – bitte, rufen Sie sie herein!« »Mr. Hartright, Sie setzen mich in Erstaunen, was die Frauen auch immer sein mögen, die Männer, dachte ich, seien im neunzehnten Jahrhundert über den Aberglauben erhaben.« »Bitte, rufen Sie sie herein!« »Stille! stille! sie kommt schon von selbst. Sagen Sie nichts in ihrer Gegenwart, lassen Sie die Entdeckung dieser Aehnlichkeit ein Geheimnis zwischen Ihnen und mir bleiben. Komm' herein, Laura, komm' herein und erwecke Mrs. Vesey mit Clavierspiel. Mr. Hartright bittet noch um etwas Musik, und zwar diesmal von der leichtesten und lebhaftesten Art.«
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